Am 1. Juni 2022 wurde der Aufruf: „Schluss mit der Falschberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks!“ publik. Dieser wurde von der Zeitung DIE WELT aufgegriffen. In diesem Beitrag soll ein kritisch kommentierter Überblick über die mediale Debatte gegeben werden, die dadurch angestoßen wurde.
Der Aufruf: Schluss mit der Falschberichterstattung
In einem 50 Seiten starken Dossier haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Detail mit der Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Themen wie Geschlecht und Sex, vor allem in Bezug auf Kinder und Jugendliche, auseinandergesetzt. Darin wird dargelegt, wie und wo falsche Informationen vermittelt werden, etwa in Bezug auf die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen. Das Dossier mit Beiträgen von Antje Galuschka, Rieke Hümpel, Michael Hümpel, Ilse Jacobsen, Alexander Korte, Uwe Steinhoff und Marie Vollbrecht ist hier in voller Länge zu lesen: https://www.evaengelken.de/dossier-ideologie-statt-biologie-im-oerr/
Das Dossier ist an einen Aufruf geknüpft: Schluss mit der Falschberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks! Der Aufruf ist hier zu lesen: https://www.evaengelken.de/aufruf-schluss-mit-der-falschberichterstattung-des-oeffentlich-rechtlichen-rundfunks/
Die Kernkritikpunkte sind diese:
Neben den 20 ErstunterzeichnerInnen haben sich bislang 683 weitere Personen dem Aufruf angeschlossen – auffällig viele davon aus dem akademischen Bereich, vor allem aus den Naturwissenschaften, besonders der Biologie, Medizin und Psychologie.
Zeitung „DIE WELT“ greift den Aufruf auf
Am 2. Juni 2022 erschien in der Tageszeitung DIE WELT ein Gastbeitrag von den Verfasserinnen und Verfassern des Aufrufs. Der Artikel ist hier, allerdings hinter einer Paywall, zu lesen: https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus239113451/Oeffentlich-rechtlicher-Rundfunk-Wie-ARD-und-ZDF-unsere-Kinder-indoktrinieren.html
Im Dienste der Klickzahlen trug der Beitrag zunächst den Titel: Wie ARD und ZDF unsere Kinder sexualisieren und umerziehen und war mit der Maus aus der Kindersendung Die Sendung mit der Maus und einer Regenbogenflagge, auf der das Trans-Symbol prangte, bebildert; der Titel wurde jedoch rasch geändert in: Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren und auf dem Bild fehlt nun die Flagge.
In dem Beitrag in DIE WELT forderten die Gastautorinnen und -autoren:
Wir fordern nicht nur die Redaktionen und Intendanten des ÖRR zum Umsteuern auf, sondern richten unseren Appell auch an die Kontrollinstanzen der Rundfunk- und Fernsehräte sowie an die Politik: Setzen Sie sich aktiv dafür ein, dass der ÖRR sachangemessen, neutral, wahrheitsgemäß und mit Achtung der Würde aller Menschen berichtet!
Quelle: https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus239113451/Oeffentlich-rechtlicher-Rundfunk-Wie-ARD-und-ZDF-unsere-Kinder-indoktrinieren.html
Der Beitrag zog Wellen der Empörung nach sich, wobei aufgrund des Inhalts vieler Beiträge davon auszugehen ist, dass wenige der Empörten den Beitrag tatsächlich gelesen haben, denn deren Fokus war die Headline des Artikels.
Wellen der Entrüstung
Im Anschluss an den WELT-Artikel haben sich viele Personen meinungsstark und ahnungsarm zu Wort gemeldet.
Vier Beispiele aus der Welt der professionell „Medienschaffenden“:
- Der gelernte Architekt und nun als Journalist tätige Claas Gefroi, dessen Kritik sich darauf beschränkte, den Gastautorinnen – darunter promovierte Biologinnen – die Kompetenz zur Beurteilung der Sachlage abzusprechen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung fehlte.
- Ein anonym erschienener Kommentar im Bayerischen Rundfunk schloss sich dem ad-hominem-Vorwurf Gefrois, dass die Autorinnen und Autoren „fachfremd“ seien, an. Dass zu den Initiatoren neben Biologinnen auch Dr. Alexander Korte, der seit 15 Jahren als leitender Oberarzt in München Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsidentitätsirregularien behandelt, gehört, wird gerne ignoriert. Zudem unterstellt der Kommentator oder die Kommentatorin den AutorInnen „Angst“ vor der eigenen Sexualität.
- Teresa Bücker, Autorin und Kolumnistin in der Süddeutschen Zeitung, glaubte in dem Beitrag sogar „rechtsextreme Positionen“ gefunden zu haben, wie aus einem Tweet vom 1. Juni 2022 hervorgeht. Begründen konnte oder wollte sie ihre Gefühle nicht.
- Annika Brockschmidt, manchen als Autorin populärwissenschaftlicher Sachbücher bekannt, durfte einen Gastbeitrag für das Portal „Volksverpetzer“ schreiben. In dem Beitrag auf dem mittlerweile als linksidentitär einzuschätzenden Portal (hier zu lesen: https://archive.ph/xqBxz), das sich gern an „Faktenchecks“ versucht, glaubt die Autorin, in dem WELT-Beitrag „die Wiedergabe rechtsextremer Positionen im publizistischen Mainstream Deutschlands“ zu finden, außerdem spart sie nicht an Faschismusvorwürfen. Der Beitrag von Brockschmidt ist reich an Unterstellungen und kreativen Assoziationen (vermutlich auch ihrem starken USA-Fokus und ihrer unkritischen Übernahme der dominanten Narrative geschuldet) und arm an validen Argumenten. Der Autorin und den Herausgebern des Portals sei die Lektüre des Beitrags „Die Tricks der Aluhüte“ empfohlen: https://www.volksverpetzer.de/aktuelles/verschwoerungsmythen-tricks/
Es ließen sich noch unzählige weitere Aussagen zusammentragen – ihnen gemein ist, dass sie in der Regel von Gefühlen geleitet sind und sich nicht inhaltlich mit der Kritik auseinandersetzen.
Für den Lesben- und Schwulen-Verband Deutschland LSVD e.V., einer Lobbyorganisation, die einst die Anliegen Homosexueller vertrat, entrüstete sich deren Sprecher Alfonso Pantisano in einer Stellungnahme und glaubte, in dem WELT-Beitrag „transfeindliche Hetze“ vorgefunden zu haben. Die Stellungnahme, der offenkundig keine Lektüre des Dossiers vorausging, ist hier zu lesen: https://www.lsvd.de/de/ct/7065-Transfeindliche-Hetze-bei-Welt-Online
Pantisano meint, dass die InitiatorInnen „mit Vorurteilen und Diffamierungen ein gefährliches Spiel“ trieben, „das auch Kindern und Jugendlichen“ schade. Belege hat er keine angeführt. Ob Pantisano, der bereits frauenfeindlich in Erscheinung getreten ist (siehe hier), die richtige Person dafür ist, um sich über „Diffamierungen“ zu echauffieren, sei dahingestellt.
Der Lesben- und Schwulenverband LGB Alliance Deutschland, der sich für die Interessen von Homosexuellen einsetzt, hat den Aufruf hingegen unterstützt. Update 6.6.2022: Die LGB Alliance Deutschland hat eine ausführliche Stellungnahme zu der Causa, besonders zu Döpfners Äußerungen zu Homosexualität, veröffentlicht, hier zu lesen: https://lgballiance.de/2022/06/05/stellungnahme-zum-wissenschaftsaufruf-an-den-oerr/
Auch auf dem Portal queer.de erschien ein in gewohnter Manier unseriöser Artikel zu dem Aufruf, worin der Autor versucht, die InitiatorInnen durch vermeintliche Kontaktschuld mit rechtskonservativen Personen zu diskreditieren.
Das Social-Media-Team von MDR Wissen schoss, statt sich der Kritik zu stellen, mit scharfer Munition und entgegnete dem Aufruf und der Kritik mit folgendem Tweet:
Da Welt und NZZ einigen, mehrheitlich fachfremden Expert*innen, die Bühne geboten hat, teils menschenfeindliche Behauptungen unter dem Deckmantel der #Wissenschaft aufzustellen, wollen wir an dieser Stelle betonen, es gibt mehr als zwei Geschlechter.
Quelle: https://twitter.com/mdrwissen/status/1532598429716779009?s=20&t=AM36IOcarn4feJUlaHuYqg
Der Comedian und ÖRR-Radiomoderator Ingmar Stadelmann maßte sich in ähnlichem Kontext sogar an, einen Auschwitz-Vergleich zu ziehen, denn seiner Meinung nach ist es – dem Tweet zufolge – mit dem industriellen Massenmord an Millionen von Menschen zu vergleichen, wenn man darauf beharrt, dass es nur zwei menschliche Geschlechter gibt. Offenbar sind alle Dämme gebrochen.
Die meiste Empörung schien aber der Vorwurf der „Frühsexualisierung“ durch das Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu verursachen, jedoch taucht der Begriff weder im Dossier, noch im Aufruf auf. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den im ÖRR oftmals vorgetragenen evolutionsleugnerischen und wissenschaftsfeindlichen Falschbehauptungen, die im Dossier detailliert auseinandergenommen werden, fand kaum statt.
Strafe für die Abweichler: Ausladung von Jobmesse
Zur Strafe für den Bericht in DIE WELT hat der Betreiber der „queeren Jobmesse“ Sticks & Stones den Axel Springer Verlag von der für Juni angekündigten Jobmesse ausgeladen.
Die Ausladung motivierte den Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer SE, Dr. Mathias Döpfner, dazu, einen Kommentar für das Springer-Medium DIE WELT zu verfassen, der hier zu lesen ist: https://www.welt.de/debatte/article239180477/Mathias-Doepfner-Unser-Haus-steht-fuer-Vielfalt-und-Freiheit.html
Darin möchte er – dem Artikelteaser zufolge – erklären, „warum er den Text für intolerant und ressentimentgeladen hält“ – allerdings erklärt er es eben nicht, sondern postuliert es lediglich. Zudem ist Döpfner offenbar entweder nicht in der Lage oder nicht willens, „Geschlecht“ (das physische, reale des Menschen) und „Geschlechtsidentität“ (das Konzept einer unbelegbaren, seelenartigen, auf Geschlechterstereotypen basierenden Identität) zu unterscheiden und vermengt sie in seinem Meinungsbeitrag. Die Twitter-Nutzerin @pottschnute formuliert ihre Kritik daran wie folgt:
Ich musste wirklich lachen. Dieser Beitrag ist das perfekte Bsp. der „Gegenseite“:
Quelle: https://twitter.com/pottschnute/status/1532795041080557569?s=20&t=zW7kDSJyuN9mYOtgiCzQKA
1. Den Autoren wird die Expertise von einem Germanisten und Theaterwiss. abgesprochen.
2. Aus dem biologischen Geschlecht wird in einem Nebensatz „Geschlechtsidentität“.
3. Anstatt einer inhaltlichen Auseinandersetzung wird versucht mit emotionalen Einzelschicksalen versucht die Diskussion als einen Angriff zu framen.
Fazit: Schon 100x gelesen. Zieht nicht mehr.
Auch in Döpfners Beitrag fehlt die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Inhalten des dem Aufruf zugrundeliegenden Dossiers und es erhärtet sich der Eindruck, dass es hier lediglich darum geht, die eigene Position zu sichern.
Am 4. Juni 2022 legte Ulf Poschardt, WELT-Chefredakteur, in seinem Beitrag Vom Schmerz der Modernisierung nach, hier zu lesen: https://www.welt.de/debatte/article239179499/Ulf-Poschardt-Vom-Schmerz-der-Modernisierung.html
Auch Poschardt scheint – ohne mit Sachkunde brillieren zu können – die Argumente seiner GastautorInnen nicht begriffen zu haben, schreibt von den „Grenzen der Freiheit“ der Gedanken, die hier offenbar gestärkt werden sollen, vermengt völlig deplatziert Homosexualität mit Transsexualität und Transgender und bittet (implizit) um Vergebung für die Tatsache, dass DIE WELT eine Kritik an einer medial dominanten, logikfeindlichen Weltanschauung publiziert hat.
Konsequenzen: Bücken vor den Diskursmächtigen
Die Offenlegung von populären Falschbehauptungen kommt der Ketzerei gleich. Da es vielen sich äußernden Personen nicht möglich scheint, inhaltlich auf die Kritik einzugehen, wird mit Diskreditierung der Personen, mit Kontaktschuld und mit wilden Unterstellungen gearbeitet. Außerdem werden die zur Verfügung stehenden Druckmittel eingesetzt, um den Diskurs und vor allem Kritik zu verhindern und um die eigene Diskurshoheit zu sichern. Wie zu sehen war, beugen sich die Verantwortlichen nach medialem Geschrei und offensichtlich ohne ausreichende Kenntnis der Sachlage rasch, statt sich hinter die eigenen Autorinnen und Autoren zu stellen.
In einem Interview in der Neuen Zürcher Zeitung mit einem der Initiatoren des Aufrufs, Prof. Dr. Uwe Steinhoff (hier [Paywall]: https://www.nzz.ch/international/ard-und-zdf-wissenschaftler-kritisieren-transgender-ideologie-ld.1687072?reduced=true) äußert sich der Philosoph u.a. zu den Vorwürfen, aufgrund der Kritik an den im ÖRR verbreiteten Falschaussagen „rechtsextrem“ zu sein, wie folgt:
NZZ: Bereits eingetroffen sind die kritischen Reaktionen in den sozialen Netzwerken. Da habe sich ein reaktionäres Häuflein zusammengetan, heisst es, um seiner Menschenverachtung freien Lauf zu lassen.
Quelle: https://www.nzz.ch/international/ard-und-zdf-wissenschaftler-kritisieren-transgender-ideologie-ld.1687072?reduced=true (Hervorh. v. VF)
Uwe Steinhoff: Mit solchen Diffamierungen war zu rechnen. Wer nicht zwischen Mann und Frau unterscheiden kann, tut sich auch schwer damit, zwischen Liberalismus und Rechtsextremismus zu unterscheiden.
Die weiter wachsende Zahl an Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern des Aufrufs zeigt, dass Steinhoff und seine MitinitiatorInnen mit ihrer Kritik nicht alleine dastehen.
Es bleibt zu hoffen, dass sich (einst) seriöse Medienorgane, allem voran die öffentlich-rechtlichen Medien, mit der Kritik auch inhaltlich auseinandersetzen und Falschaussagen nicht weiter verbreiten – auch und vor allem um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen. Denn es ist absurd, die wachsende Skepsis gegenüber öffentlich-rechtlichen Medien zu betrauern, und zugleich Falschbehauptungen zu vertreten und zu verteidigen.
Zur Prüfung von (Falsch-)Behauptungen wird es angesichts des angekündigten „Selbstbestimmungsgesetzes“ oder auch „Vielfaltsgesetzes“ auch weiterhin viel Anlass geben, denn diesem Gesetz zufolge soll jeder Mensch seinen personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag frei ändern und auch ohne psychologische Gutachten auf Wunsch körperverändernde Maßnahmen, finanziert durch die gesetzliche Krankenversicherung, an sich vornehmen lassen können. Kritik daran wird, ähnlich wie im oben gezeigten Fall, nicht entgegnet, sondern zu unterbinden versucht.