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Gastbeitrag: Kritik an einer Resolution der Bundespsychotherapeutenkammer zum ‚Selbstbestimmungsgesetz‘ (05.2022)

Folgender Gastbeitrag erschien am 17. Mai 2022 auf Twitter. Der Autor stellt uns seinen Text zur Verfügung – wir teilen seine Ansichten und schließen uns den Forderungen an.

Update: Am 24. Mai 2022 publizierte die bundesweite Initiative Geschlecht zählt (geschlecht-zaehlt.de) anlässlich der Resolution einen offenen Brief an die Bundespsychotherapeutenkammer, dem wir uns ebenfalls uneingeschränkt anschließen (Link zum offenen Brief).

Resolution des Deutschen Psychotherapeutentages

Es folgt eine Kritik an der Resolution zum „Abbau von struktureller Diskriminierung gegenüber Trans Menschen“ der Bundestherapeutenkammer, verabschiedet auf dem 40. Deutschen Psychotherapeutentag, 13./14. Mai 2022 in Stuttgart (pdf) sowie am aktuellen Narrativ der vermeintlichen Alternativlosigkeit affirmativer Therapie unter Verwendung unwissenschaftlicher Konstrukte. Die Quellen sind je verlinkt.

Kein schlüssiges Konzept

Zum 40. Deutschen Psychotherapeutentag hat die Bundespsychotherapeutenkammer ihre Unterstützung eines geplanten Selbstbestimmungsgesetzes bekanntgegeben. Dieses Gesetz basiert auf der unwissenschaftlichen Annahme einer angeblich bereits bei Kindern unabänderlichen, vom Körper dissoziierten Geschlechtsidentität. Ihren theoretischen Ursprung hat dieses Konstrukt in der postmodernen Philosophie und Queertheorie (einer sozialwissenschaftlichen Kulturtheorie). Es lässt sich weder neurowissenschaftlich (Eliot, 2019; Eliot et al., 2021) noch entwicklungspsychologisch als schlüssiges Konzept stützen. Vielmehr unterstützen die in der Entwicklungspsychologie anerkannten Phasenmodelle der Entwicklung (u.a. Erikson, Havighurst) einen Entwicklungsprozess von Identität bis ins Erwachsenenalter, der mit zahlreichen Krisen und Anpassungsschwierigkeiten einhergehen kann.

Zur Wahrung der Glaubwürdigkeit des Berufsstandes sollten PsychotherapeutInnen und ihre Vertreterorgane auch ihre politischen Willensbekundungen im Zusammenhang mit wissenschaftlich fundierter Psychotherapie (z.B. bei Störungen der Identität in Kindheit und Adoleszenz) unbedingt unter Rückgriff auf die psychologische Grundlagenforschung begründen. Ein Bezug auf die Queertheorie wird diesem Anspruch in keinem Fall gerecht. In den Begründungen des Selbstbestimmungsgesetzes, auch für Menschen mit Geschlechtsdysphorie, kommt es leider oft zu einer Vermengung mit Störungen der Geschlechtsentwicklung, worauf in der fachärztlichen und sexualwissenschaftlichen Stellungnahme von Dr. Alexander Korte (2020) für den Bundestag ausführlich hingewiesen wurde.

Evidenzen und Versöhnung

Geschlechtsdysphorie, die keine Störung der Geschlechtsentwicklung darstellt, nimmt bei jungen Menschen drastisch zu (in England vermeldet das NHS einen Anstieg um 4000% bei jungen Mädchen in den letzten 10 Jahren). Bei den meisten betroffenen Kindern scheint sich diese Dysphorie jedoch in der Regel wieder von selbst zu beruhigen. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Evidenz, die gegen eine unbedingte Affirmation der angenommenen „Geschlechtsidentität“ spricht, wie sie im aktuellen therapeutischen Diskurs propagiert wird. Einen Teil dieser Evidenz habe ich hier gesammelt.

Mehrere Studien zeigen, dass sich im Mittel 85% der Kinder und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie nach der Pubertät mit ihrem biologischen Geschlecht versöhnen („desistance“), falls keine Transition z.B. durch Pubertätsblocker, soziale Transition, etc. vorbereitet wird (z. B. Singh, 2012; Steemsma et al., 2013, Ristori et al., 2016).

Viele dieser jungen Menschen werden nach ihrer Pubertät homosexuell. So zeigen Studien, dass bei 75% der (biologischen) Mädchen und 55% der (biologischen) Jungen mit Transitionswunsch eine homosexuelle Orientierung vorhanden ist (Bungener, Steensma, Cohen-Kettenis & de Vries, 2017).

Eine moderne Form der Konversionstherapie

Erhalten diese Kinder Pubertätsblocker (PB), werden 98% später gegengeschlechtliche Hormone einnehmen und transitionieren, ihr Befinden bessert sich durch die Pubertätsblocker an sich jedoch nicht (Dyer, 2021). Mit der Gabe von PB wird die Transition also bereits vorbereitet, obwohl die meisten Betroffenen ohne PB „desisten“ würden. Für die homosexuellen Menschen unter den Betroffenen wäre eine Transition somit eine moderne Form der Konversionstherapie.

Pubertätsblocker führen nicht nur sicher zur Transition mit lebenslanger Medikation und medizinischen Komplikationen, sie verschlechtern auch Gedächtnisfunktionen und Reaktionszeiten, sie verstärken Depressionen und scheinen mit einem reduzierten IQ assoziiert (Hayes, 2017). Nicht umsonst hat das schwedische Karolinska-Institut (eine der größten medizinischen Universitäten und Kliniken Europas) sämtliche klinischen Behandlungen mit Pubertätsblockern gestoppt.

Woher kommt der Anstieg?

Warum kommt es seit 10 Jahren insbesondere bei Mädchen ab dem Teenager-Alter zu einem exponentiellen Anstieg in Transitionswünschen, ohne dass diese vorher Symptome von Geschlechtsdysphorie gezeigt hätten? Ein wesentlicher Faktor scheint hier die soziale Ansteckung auf social media und im Freundeskreis zu spielen (Aitken et al.2015), sodass ganze Freundeskreise auf einmal geschlechtsdysphorisch werden (sog. adolescent onset gender dysphoria, AOGD).

Dies wird in Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit zu sehr hohen Detransitions-Raten führen. Schon heute geben in einer Online-Umfrage unter Detrans-Personen 55% der TeilnehmerInnen an, dass sie vor der Transition nicht ausreichend über die Folgen beraten wurden (Littman, 2021).

Komorbiditäten

Hinzu kommt, dass junge Menschen mit Geschlechtsdysphorie oft zahlreiche komorbide Störungen aufweisen, die von affirmativen Therapeuten als Folge der Geschlechtsdysphorie gesehen werden, was sich wissenschaftlich durch die rein retrospektive Perspektive nicht bestätigen lässt (insb. bei Autismusspektrumstörungen auch unlogisch). Mädchen leiden dabei häufiger unter selbstverletzendem Verhalten, dissoziativen Störungen oder körperdysmophen Störungen. Jungs leiden häufiger unter Autismusspektrumstörungen, Agoraphobie oder Hypochondrie (Holt, Skagerberg & Dunsford, 2016; Lai et al., 2010)

Die chirurgische Angleichung des biologischen Geschlechts (ein vollständiger Wechsel ist unmöglich, da das Geschlecht genetisch kodiert ist) führt dabei langfristig auch nicht automatisch zu einer Besserung der Belastung. In einer Langzeit-Follow-up-Studie fand man in Schweden nach 30 Jahren sogar ein höheres Suizidrisiko für Menschen nach körpermodifizierenden Operationen (Dheijne et al., 2011).

Natürlich gibt es auch zahlreiche Studien, die positive Effekte für affirmative Therapie und chirurgische Behandlungen zeigen. Deren Qualität ist jedoch durch die schwierigen Design-Bedingungen (keine RCTs, überwiegend retrospektiv) meist unzureichend, insbesondere um rasche Entscheidungen mit lebenslangen Folgen zu tätigen (Monstrey, Vercruysse Jr.,& De Cuypere, 2009). Diese unzureichende Evidenzlage wird vom aktuellen Interimsbericht des Cass-Reviews für das NHS bestätigt (Cass,2022).

Warum wird diese Evidenz ignoriert?

Insgesamt kann affirmative Therapie mit nachfolgender Transition und allen negativen Folgen aufgrund der schwachen Evidenz aktuell nur als experimentelle Therapie verstanden werden, die auf keinen Fall einen Behandlungsstandard für Geschlechtsdysphorie darstellen sollte. Daneben gibt es zahlreiche Studien, die sogar einen negativen Effekt von Transition aufzeigen. Warum wird diese Evidenz ignoriert?

Insbesondere das Fördern einer vermeintlich unabänderlichen Geschlechtsidentität bei Kindern wird psychische Unflexibilität in der Entwicklung verstärken, was zu mangelhafter Anpassungsfähigkeit und verstärktem Leid führen wird, dem wieder mit medizinischen Interventionen begegnet wird. Die Befürwortung eines Selbstbestimmungsgesetzes führt zu einer Normalisierung geschlechtsdysphorischen Erlebens und einem deutlichen Anstieg körpermodifizierender Eingriffe mit unbekannten Langzeitfolgen.

Verantwortungsvolle Psychotherapie darf sich nicht als Zugpferd einer politischen Bewegung missbrauchen lassen, sondern muss zu jedem Zeitpunkt das langfristige Patientenwohl ins Zentrum allen Handelns stellen, auch wenn das bedeutet, nicht unmittelbar jedem Wunsch eines Patienten entsprechen zu können und durch Dysphorie verursachtes Leid gemeinsam stärker zu akzeptieren.

Daher braucht es mehr akzeptanz- und klärungsorientierte Therapieansätze zur Exploration der motivationalen Konfliktschemata hinter dem Transitionswunsch, die in einem bio-psycho-sozialen Modell auch soziokulturelle Faktoren miteinbeziehen (z.B. die soziale Ansteckung). Dieser Aufgabe sollten sich die psychotherapeutischen Fachgesellschaften in Zukunft wesentlich stärker widmen, um nicht Teil eines Medizinskandals zu werden, wie er sich in Ländern wie Schweden oder Großbritannien bereits abzeichnet.

In der Güterabwägung der vier wichtigsten Prinzipien der Medizinethik sollte weiterhin das “primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare” als Primat der psychotherapeutischen Behandlung junger Menschen mit Geschlechtsdysphorie gelten.